>> Auszug aus Kapitel 3: Das Müslimädchen wird musikalisch früherzogen und Klugscheißer. Es verliert einen Zahn und rächt sich an seinem Vater.
Meine Eltern sind Musiker. Da wird mit Stimmgabeln gegessen, mit dem Notenschlüssel die Tür aufgemacht und sehr viel Wert auf Takt gelegt. Zum Sonntagsfrühstück gab es Handkäs mit Musik, meistens Mozart oder Bach, und wenn meine Mutter nicht gerade Klavier oder Gesang unterrichtete, bearbeitete mein Vater den Flügel.
In allen Dingen schlief ein Lied und meistens schnarchte es dabei. Meine Mutter pfiff beim Spülen, mein Vater nur, wenn er gute Laune hatte, und weil Musiker auch immer viele Musikerfreunde haben, war immer jemand zu Besuch, der sich darum kümmerte, dass der Lautstärkepegel konstant blieb. Besonders gerne saßen die Musikerfreunde auf dem Klo und schmetterten inbrünstig irgendwelche Arien, derrrr Hölle Rrrrache kocht in meinem Herrrrzen, und wenn sie danach wieder ins Zimmer kamen sagten sie: »Wunderbar, die Akustik bei euch im Bad!«
Die Musik war überall. Und es gab kein Entkommen.
Abends, wenn ich ins Bett musste, hatte mein Vater endlich Zeit, auf seinem Flügel zu spielen. Weil das Wohnzimmer nur durch eine dünne Wand vom Kinderzimmer getrennt war, konnte ich optimal von seinen Fingerübungen profitieren. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Am Ende vom Lied ist das Kind tot. Ich konnte nicht verstehen, warum es mein Vater nicht auf die Reihe bekam, endlich diese vier Takte zu spielen. Das war doch nicht so schwer!
Ich würde gerne aus meiner Haut fahren, aber ich weiß nicht wohin. Ich strample die Decke weg und mache eine Kerze, bis mir das ganze Blut in den Kopf geflossen ist und in meinen Ohren pocht, lauter als die Musik. Aber dann bekomme ich keine Luft mehr und entkerze mich wieder, Wirbel für Wirbel, knack knack knack, und dann liege ich da und alles tut weh.
Ich bin immer noch sehr wach. Ich lege mich andersrum ins Bett, mit den Füßen auf dem Kopfkissen und dem Kopf unter der Decke. Wie Pippi Langstrumpf. Sie sagt, das ist die einzig richtige Art zu schlafen, weil man da mit den Zehen wackeln kann. Ich wackel mit den Zehen. Es hilft nicht.
Dann wackel ich an meinem Zahn. Es ist der Schneidezahn oben rechts und er sitzt noch ganz fest, aber da er ein Milchzahn ist, muss er eh irgendwann raus, also warum nicht jetzt. Eine Stunde wackel und rüttel und zuckel ich am Zahn herum, dann tropft mir Blut aus dem Mund, und ich renne ins Bad, wo ich das Blut ins Waschbecken spucke und mich freue, weil alles ganz rot wird.
Im Spiegel sehe ich, dass der Zahn nur noch an einem kleinen Faden hängt. Ich packe den Zahn und drehe ihn, einmal, zweimal, dreimal, wann reißt dieser blöde Faden endlich ab? Er will einfach nicht loslassen, bestimmt weil es ihm so gut gefällt in meinem Mund, mit der ganzen Schokolade.
Irgendwann reißt mir der Geduldsfaden und der, an dem der Zahn hängt, auch. Jetzt sehe ich richtig scheiße aus, also so wie Erwachsene Kinder süß finden, mit ihren zu großen Nasen und Zähnen und Zahnlücken und ihren eckigen Ellbogen, aber kleine Jungs finden andere Mädchen süß.
Ich gehe zurück ins Bett und erfinde eine Oper. Das kann ich gut, mit allem drumherum, Orchester, Sänger und so weiter, aber leider passiert das alles nur in meinem Kopf, denn ich kann ja keine Partituren schreiben. Schade eigentlich.
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Einige Wochen später, nämlich als mein Vater alle Stücke, die er abends geübt hat, in einem Konzert vorspielt, räche ich mich. Für die schlaflosen Nächte und die Augenringe, die ich noch nicht mit Concealer abdecken kann, weil ich dafür zu jung bin.
Ich ziehe mein schönstes Kleid an, sitze zwei Stunden lang still auf meinem Stuhl und lese im Programmheft die Texte mit. Danach, wenn die Leute klatschen und trampeln und aufstehen und weiterklatschen, weil sie alles so toll finden, was mein Vater da auf der Bühne geleistet hat, gehe ich nach vorne und überreiche einen Blumenstrauß. Manche Zuhörer müssen dann ein bisschen weinen vor Rührung, weil die Tochter mit dem Lockenkopf und der Zahnlücke so entzückend aussieht und ihren Vater sehr liebhaben muss, und mein Vater weint auch, aber das sehe nur ich, weil ich ganz nah an ihm dran stehe.
Später gehen wir in ein schickes Restaurant, mit den ganzen Leuten, die meinen Vater verehren, und weil niemand aufpasst, bestelle ich alles, was ich will: Nizzasalat und Pommes und Eis und eine Spezi und dann noch eine.
Ich warte ab, bis alle sitzen und essen und das laute Stimmengewirr nur noch ein Raunen ist und hole tief Luft.
»Papa«, sage ich dann, »du hast dich dreimal verspielt.« Das ist mein Trumpf. Schließlich habe ich mitgeübt, wenn auch unfreiwillig. Ich zähle die Stellen auf, an denen mein Vater Fehler gemacht hat, und die Leute am Tisch lachen. Wie niedlich, denken sie, so ein neunmalkluges Kind. Zum Glück haben wir so eins nicht zu Hause.
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